Im letzten Artikel - und gleichzeitig ersten Artikel der Reihe - haben wir über moderne Unternehmen im Allgemeinen gesprochen. Wann ist ein "modernes Unternehmen" modern? Und wann ist "modern" überhaupt modern? Auch der zweite Teil unserer Reihe wirft Fragen auf, die besonders den Interpretationsspielraum betreffen, den der Begriff "flache Hierarchien" bietet.
Wenn heute über ein modernes Unternehmen gesprochen wird, fällt in einem Nebensatz unweigerlich das geflügelte Wort „flache Hierarchien“. Und obwohl dieses System immer wieder propagiert wird und sich heute viele Unternehmen damit auseinandersetzen, weiß die Allgemeinheit eigentlich recht wenig, was es damit konkret auf sich hat. Ich selbst hatte das Gefühl, in Unternehmen mit flachen Hierarchien gearbeitet zu haben – bis ich im Zuge meiner Recherche herausgefunden habe, dass einige Arbeitgeber sogar überdurchschnittlich steil organisiert waren.
Nun wollen wir Licht in Dunkel bringen und hier erklären, was Unternehmen mit flachen Hierarchien bieten müssen. Wir sprechen darüber, was flache Hierarchien bedeuten, in welchen Eckpunkten sie sich vom klassischen Pyramidialsystem unterscheiden, welche Vorteile sie mitbringen – aber auch über die Nachteile und wieso sie sowohl für das Individuum als auch für das Unternehmen schädlich sein können.
Was bedeutet „flache Hierarchien“?
Eine ganz klare Definition eines Systems mit „flachen Hierarchien“ gibt es nicht. Wie beim Begriff „modern“ kommt es auch bei „flach“ darauf an, wie zugänglich die jeweilige Branche für das System ist. Generell lässt sich sagen, dass Unternehmen dann von flachen Hierarchien gekennzeichnet sind, wenn sie für ihre Verhältnisse wenige Führungsebenen aufweisen. Das heißt, mehrere Mitarbeitende befinden sich auf der gleichen Stufe und haben gleiches Entscheidungsrecht – und gleichzeitig eine erhöhte Verantwortung.
Nehmen wir als Beispiel ein Büro mit Developern in einer Webagentur. Sie teilen sich in mehrere Bereiche auf: Der eine kümmert sich ums Backend, die andere um Frontend, wieder andere befassen sich mit den Schnittstellen.
Ein altbekanntes Szenario: die Web-Agentur
In einer Agentur mit steilen Hierarchien würde hier der Geschäftsführer vorgeben, was gemacht wird. Die Leiterin der Development-Abteilung, wie es gemacht wird. Der Teamleiter des XY-Teams entscheidet letztlich, wer etwas macht. Nun kann gearbeitet werden. Gibt es ein Ergebnis, kommt es zu ersten Korrekturschleife, die wiederum von der ausführenden Developerin zum Teamleiter über die Abteilungsleiterin bis zum Geschäftsführer reicht, der das Ergebnis absegnet – oder eben nicht. Und so weiter.
Bei flachen Hierarchien gibt es zwar auch einen Geschäftsführer – da dieser aber kein Programmierer ist, mischt er sich eigentlich in deren Belangen nicht ein. Was wie und von wem gemacht wird, das bestimmt die Development-Abteilung unter sich. Wahrscheinlich gibt es nur eine leitende Person, die aber mehr als Koordinator denn als Entscheider fungiert. Die ausführende Developerin bekommt die Aufgabe vielleicht zugewiesen, vielleicht darf sie sich während eines Meetings aussuchen. Wie sie anschließend ausgeführt wird, steht aber in ihrer Verantwortung, gleich wie das Ergebnis. Schließlich gelangt das Ergebnis nach kurzem Check beim Projektmanagement direkt bei den Kunden.
Was bewirkt dieses System? Entscheidungswege werden deutlich verkürzt, die Agentur kann viel dynamischer und flexibler agieren und reagieren. Gerade in der IT-Branche, aber auch andere Sektoren, die regelmäßig von größeren Veränderungen geprägt sind, lohnt sich dieses System. Durch die kurzen, horizontalen Kommunikations- und Entscheidungswege kann sich das Unternehmen schneller auf Neuigkeiten und Innovationen einstellen.
Prozessoptimierung & Innovation mit flachen Hierarchien
Um dies noch mal zu verdeutlichen, haben wir ein weiteres Beispiel: Die letzte große Veränderung, die wir in den vergangenen Monaten alle mitbekommen haben, ist ChatGPT. Wir hatten nun genug Zeit, das Tool kennenzulernen, kennen mittlerweile Stärken und Schwächen und bei einigen gehört es sicherlich schon zum Standard.
Jedes Unternehmen sollte klugerweise dieses Tool in den eigenen Alltag integrieren, die Mitarbeitenden dazu schulen und aktiv damit arbeiten. In einem Unternehmen mit flachen Hierarchien ist das ein Kinderspiel, zumal die Mitarbeitenden so viel Eigenverantwortung besitzen, dass sie das System wohl ohne Extraeinladung nutzen werden.
In einem Unternehmen mit steilen Hierarchien werden solche Dinge von ganz oben vorgegeben oder interessierte Mitarbeitende müssen sich zunächst an Vorgesetzte wenden und deren Einverständnis holen. Wobei es vorkommen kann, dass sich dies die ganze Pyramide hinauf zieht. Bis die endgültige Entscheidung wieder an ihren Ausgangspunkt gelangt, hat Skynet derweil die Welt übernommen.
Wären wir bei einem Unternehmen mit flachen Hierarchien, dann erfahren Mitarbeitende etwas über ChatGPT und fangen sogleich damit an zu arbeiten. Sie teilen die neue Errungenschaft mit den Kolleginnen und Kollegen und auch die Teamleitung erfährt davon. Dass sich besagter Mitarbeiter dazu bemächtigt fühlt, ohne explizites Einverständnis von oben ChatGPT verwenden, zeugt von kurzen Entscheidungswegen, die Prozessoptimierungen und -innovationen beschleunigen.
Die Schwachstellen flacher Hierarchien
Das heißt jetzt natürlich nicht, dass solche Neuerungen übernommen werden sollten, ohne hinterfragt zu werden. Gerade ChatGPT dient mit seinen Datenschutz-Lecks als mahnendes Beispiel dafür, dass man Innovationen doch mit Vorsicht begegnen sollte. Somit können solche kurzen Entscheidungswege auch schnell zu vorschnellen Entscheidungen führen und den gegenteiligen Effekt auslösen.
Eine Verwaltungskraft etwa sollte nicht einfach eigenhändig ein neues Buchungssystem verwenden, ohne die bestehenden Risiken mit den Verantwortungsträgern abzuwägen. Mitarbeitende in einer Produktionsstätte können nicht aus einer Laune heraus neue Standards festlegen, um einmal etwas auszuprobieren. Überhaupt sollten Angelegenheiten, die unmittelbar auf die Struktur und das System einwirken, denen eine Unternehmensart (Produktion) oder ein Aufgabenbereich (Verwaltung) zugrunde liegen, mit Bedacht angegangen und gut vorbereitet werden.
Insgesamt argumentieren Kritiker flacher Hierarchien damit, dass das Fehlen von flachen Strukturen eine Art unternehmerische Anarchie hervorruft. Es könnte zu kommunikativen Verstrickungen und Flaschenhälsen kommen; einzelne Elemente könnten sich Entscheidungen anmaßen, die nicht in ihren Kompetenzbereich fallen; und zudem fördere eine flache Hierarchie Grüppchenbildungen, in denen sich wiederum Mikro-Machtpositionen einzelner herauskristallisieren könnten - wir Menschen lieben nun mal Hierarchien. Viele schaffen sich dann halt welche, sollten sie nicht vorhanden sein.
Fazit
Folgen wir der bisherigen Argumentation, dann ist es überaus schwierig festzulegen, welche der beiden Formen die bessere ist. Wie so oft gibt es auch in der Unternehmensstruktur mehrere Wahrheiten, die von zahlreichen Variablen abhängen. Liest man sich zudem tiefer in die Thematik der Organisationsstrukturen ein, so merkt man schnell, dass die Frage „flache Hierarchien oder Pyramidensystem“ dem schieren Umfang der Thematik nicht gerecht wird.
Was uns wiederum zur Erkenntnis führt, dass „flache Hierarchien“ zu Unrecht als einer der Maßstäbe für moderne Unternehmen gilt. Es ist mittlerweile eher eine Worthülse, denn eine konkrete Antwort darauf, wie sich „moderne“ Unternehmen von heute und morgen aufstellen sollten. Man kann es mit der Entwicklung des Wortes „Nachhaltigkeit“ in der Klimadebatte vergleichen, das mittlerweile auch eher zu einem substanzlosen Dogma geworden ist und dessen ursprüngliche, vom Klimawandel losgelöste Bedeutung vielen Menschen gar nicht mehr geläufig ist.